THEMENSEITE FRANZÖSISCHES PRIVATRECHT


Die Themenseite informiert über die Besonderheiten französischer Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen sowie über die jüngeren und anstehen Reformen.

Die Verfassung der V. Republik von 1958 macht nur unvollständige Angaben über die Arten, Reichweite und Zuständigkeiten geschriebener Rechtsnormen, die im Übrigen auf einer seit der Französischen Revolution etablierten Tradition beruhen. Ähnlich wie im deutschen Recht folgen französische Rechtsnormen einer bestehenden Normenhierarchie.

An der Spitze steht die französische Verfassung der Fünften Republik. Sie ist am 4. Oktober 1958 ausgefertigt worden und ersetzt die Verfassung der Vierten Republik vom 27. Oktober 1946. Kraft Verweises der Präambel der Verfassung von 1958 sind jedoch nach wie vor Teil des positiven Verfassungsrechts: (1) die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen), (2) die „von den Gesetzen der Republik anerkannten Grundprinzipien“ (Principes fondamentaux reconnus par les lois de la République) und (3) die „in unserer Zeit besonders notwendigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundsätze“ (Principes politiques, économiques et sociaux particulièrement nécessaires à notre temps).

Zwischen der Verfassung und den einfachen Parlamentsgesetzen stehen gemäß Art. 55 der Verfassung die internationalen Verträge, soweit sie ratifiziert oder genehmigt sind.

Unter den internationalen Verträgen stehen die einfachen Parlamentsgesetze (lois). Sie werden in erster Linie von der französischen Nationalversammlung (Assemblée Nationale) beschlossen. Der Senat verfügt über ein aufschiebendes Vetorecht.

  • In der Fünften Republik sind Parlamentsgesetze nur für die in der Verfassung (etwa in Art. 34) besonders festgelegten Materien zulässig. Alle anderen Bereiche dürfen gemäß Art. 37 der Verfassung nur durch unterparlamentarische Rechtsnormen der Exekutive geregelt werden.
  • Die Verfassungskonformität parlamentarischer Gesetze kann vor ihrer Ausfertigung durch ein abstraktes Normenkontrollverfahren geprüft werden. Zuständig ist hierfür der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel). Seit einer Verfassungsänderung aus dem Jahre 2008 besteht außerdem die Möglichkeit, die Verfassungskonformität eines Parlamentsgesetzes auch nach Ausfertigung und Inkrafttreten im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens (question prioritaire de constitutionnalité – QPC) zu prüfen.
  • Eine besondere Art von Parlamentsgesetzen sind die „Organgesetze“ (lois organiques), die der Ausführung einer verfassungsrechtlichen Vorschrift dienen und eigenen Regeln unterliegen.

Gesetzeskraft kommt auch den Ordonnances zu. Trotz der Wortähnlichkeit handelt es sich nicht um „Verordnungen“ nach deutschem Verständnis, sondern um Rechtsnormen der Regierung oder des Präsidenten der Republik, durch die auch Parlamentsgesetze aufgehoben oder abgeändert werden können. Die meisten Ordonnances bedürfen eines parlamentarischen Ermächtigungsgesetzes nach dem Verfahren des Art. 38 der Verfassung.

In der Normenhierarchie unter den Parlamentsgesetzen und den Ordonnances liegen die übrigen Rechtsnormen der exekutiven Gewalt. Sie haben die Form eines Dekrets (décret) oder einer „Anordnung“ (arrêté). Zu beachten ist, dass Dekrete und Anordnungen Rechtsnormen oder auch individuelle Verwaltungsakte sein können, etwa die Ernennung eines Beamten oder eine polizeiliche Verfügung.

  • Dekrete stammen von der Regierung oder vom Präsidenten der Republik. Sie dienen entweder der Ausführung von Parlamentsgesetzen oder der Regelung einer Materie, für die das Parlament nicht zuständig ist. Dekrete können einfache Dekrete (décrets simples) sein oder Dekrete, die der beratenden Mitwirkung des Staatsrats (décrets en Conseil d’État) und/oder der Befassung durch den Ministerrat (décrets en Conseil des Ministres) bedürfen.
  • „Anordnungen“ (arrêtés) werden von einzelnen Ministern im Rahmen ihrer Befugnisse (arrêtés ministériels) oder, lokal oder sachlich beschränkt, von Gebietskörperschaften (z.B. arrêtés municipaux einer Gemeinde), sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts (etwa Universitäten) oder von Behörden (z.B. arrêtés préfectoraux) geschaffen. Sie dienen der Ausführung von Parlamentsgesetzen oder Dekreten oder einer inneren Verwaltungsorganisation.

Parlamentsgesetze und unterparlamentarische Rechtsnormen (décrets und arrêtés ministériels) werden im Amtsblatt der französischen Republik (Journal officiel de la République française) verkündet. Seit dem 01.01.2016 wird das Amtsblatt nur noch in geschützter elektronischer Form über die Légifrance-Plattform verkündet. Die gängigen Gesetzbücher werden außerdem jährlich von verschiedenen privaten Verlagen mit Rechtsprechungshinweisen veröffentlicht (Codes rouges Dalloz, Codes bleus LexisNexis).

Französische Rechtsnormen haben – ähnlich wie in Deutschland – die Gestalt von Gesetzbüchern (codes) oder von Einzelgesetzen. Seit Ende der 1990er Jahren werden zahlreiche Einzelgesetze bei grundsätzlich gleichbleibendem Regelungsinhalt in systematische Gesetzbücher eines neueren Typs zusammengefasst (codification à droit constant). Diese neuartigen Kodifikationen haben die Besonderheit, dass sie nicht mehr fortlaufend, sondern kapitelweise nummeriert sind, und insbesondere meist aus einem parlamentsgesetzlichen Teil (sog. „L-Artikel“ oder „LO-Artikel“ für Organgesetze) und aus untergesetzlichen Teilen bestehen, die Dekrete mit Beteiligung des Staatsrats („R-Artikel“), einfache Dekrete („D-Artikel“) oder Anordnungen („A-Artikel“) sein können.

Rechtsnormen können auch aus Gewohnheitsrecht hervorgehen. Wie im deutschen Recht bedarf es für die gewohnheitsrechtliche Anerkennung einer Regel, dass sie durch dauerhafte und regelmäßige Anwendung gefestigt ist und dass sie von dem von ihr betroffenen Personenkreis als bindend angesehen wird. Ähnlich wie in Deutschland spielt das Gewohnheitsrecht in Frankreich nur eine untergeordnete Rolle.

Die französische Rechtsordnung als Teil der europäisch-kontinentalen Rechtsfamilie erkennt die Rechtsprechung nicht als eigene Rechtsquelle an. Sie spielt gleichwohl als Rechtserkenntnisquelle eine wesentliche Rolle, die der der deutschen Rechtsprechung mindestens ebenbürtig ist.

Die französische Gerichtsverfassung besteht traditionell aus zwei Gerichtsbarkeiten, der ordentlichen Gerichtsbarkeit (ordre judiciaire) und der Verwaltungsgerichtsbarkeit (ordre administratif). Eine Sonderstellung nimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit des Verfassungsrats (Conseil constitutionnel) ein.

Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind, ähnlich wie in Deutschland, die Tatsachengerichte (juridictions du fond) und der Kassationshof (Cour de cassation) als oberstes Gericht. Die Aufgabe des Kassationshofs beschränkt sich, wie bei der deutschen Revision, auf die rechtliche Überprüfung der durch das besondere Rechtsmittel des pourvoi en cassation angegriffen Urteile. Die Gerichte der ersten Instanz waren bis zum 31.12.2019 in erster Linie das Instanzgericht (tribunal d’instance) und das Großinstanzgericht (tribunal de grande instance). Beide Gerichte wurden mit Wirkung zum 01.01.2020 zu einem einzigen „Justizgericht“ (tribunal judiciaire) zusammengefasst. Weitere Gerichte der ersten Instanz sind das Handelsgericht (tribunal de commerce), das für arbeitsrechtliche Streitigkeiten zuständige conseil des prud’hommes und das Gericht in Landpachtsachen (tribunal paritaire des baux ruraux). Gegen erstinstanzliche Urteile mit einem Streitwert von mehr als EUR 4.000 ist regelmäßig die Berufung (appel) vor dem Appellationsgerichtshof (cour d’appel) statthaft. Die Urteile der Appellationsgerichtshöfe und die Urteile erstinstanzlicher Gerichts, gegen die eine Berufung nicht statthaft ist, können im Wege eines pourvoi en cassation beim Kassationshof nach Rechtsfehlern überprüft werden.

Entscheidungen französischer Gerichte fallen meist erheblich kürzer aus als Urteile deutscher Gerichte und folgten traditionell dem strengen Formalismus der „Ein-Satz-Entscheidung“ (décision à phrase unique), in denen die Erwägungsgründe (attendus oder considérants) in eingeschobenen Nebensätzen formuliert waren und das Ergebnis (Verurteilung, Abweisung, Aufhebung, Verweisung u.s.w.) in einem kurzen Hauptsatz am Ende des Urteils erschien. Der Kassationshof hatte jedoch angekündigt, die Praxis des traditionellen Urteilsstils Ende 2019 auslaufen zu lassen. Zur besseren Lesbarkeit sollte er seine Entscheidungen zukünftig in mehreren Sätzen formulieren, die drei Abschnitte bilden: die Zusammenfassung von Sachverhalt und Verfahren (faits et procédure), die eigentliche rechtliche Prüfung (examen des moyens) und schließlich das Ergebnis der Entscheidung (dispositif). Die Absätze sollen mit amtlichen Nummern versehen, Grundsatzurteile sollen außerdem ausführlicher begründet und frühere Entscheidungen des Gerichtshofs zitiert werden. Hingegen sind Verweise auf andere Entscheidungen oder gar auf Literaturbeiträge auch für die Zukunft nicht geplant. Die Reform wird zurzeit umgesetzt. Seit Januar 2020 werden die Urteile des Kassationshofs vermehrt im neuen Stil formuliert.

Der Kassationshof besteht aus drei Zivilkammern (chambres civiles), einer Kammer für Handels-, Finanz- und Wirtschaftssachen (chambre commerciale, financière et économique), einer Kammer für Sozialsachen (chambre sociale) und einer Strafkammer (chambre pénale). Kammerübergreifende bzw. besonders grundlegende Rechtssachen werden von der „Gemischten Kammer“ (chambre mixte) bzw. von den Vereinigten Kammern des Kassationshofs (Assemblée plénière) entschieden.

Die Urteile des Kassationshofs können in der amtlichen Datenbank Légifrance eingesehen werden. Die Entscheidungen aus der Zeit ab den 1960er Jahren sind offenbar vollständig, es finden sich dort auch einige ausgewählte frühere Entscheidungen. Etwa ab den 1960er Jahren sind Urteile mit einer Geschäftsnummer (numéro d’affaire, manchmal auch numéro de pourvoi genannt) versehen, die aus dem Jahr des Eingangs des Rechtsmittels des pourvoi und einer laufenden Nummer zusammengesetzt ist (etwa: „2019-12345“) und durch die ein Urteil identifiziert und insbesondere auch in der Légifrance-Datenbank gefunden werden kann. In der Légifrance-Datenbank finden sich außerdem auch ausgewählte Urteile französischer Tatsachengerichte.

Grundsatzurteile des Kassationshofs auf dem Gebiet des Privatrechts werden in der amtlichen Sammlung des Bulletin des arrêts des chambres civiles der la Cour de cassation veröffentlicht. Diese Sammlung befindet sich für die Urteile ab 2008 online auf der Internetseite des Kassationshofs. Ältere im Bulletin veröffentlichte Urteile (bis 1913) werden vom Digitalisierungsdienst der französischen Nationalbibliothek Gallica zur Verfügung gestellt. Weitere Internetquellen sind die kostenpflichtigen Datenbanken Dalloz.fr, Revue Dalloz, LexisNexis France, Lextenso und Lamyline, welche über einen größeren Datenbestand in Bezug auf Entscheidungen der Tatsachengerichte verfügen. Ältere Urteile (etwa bis Mitte des 20. Jahrhunderts) lassen sich meist gut in den von Gallica online gestellten Zeitschriften Dalloz périodique („DP“) [1825-1902] [1903-1943], Dalloz hebdomadaire („DH“) [1924-1942] oder im Recueil Sirey („S.“) [1791-1945, unvollständig] [vereinzelte Jahrgänge] finden.

Zur Auslegung unklarer Rechtsnormen können Gesetzesmaterialien herangezogen werden. Bei Parlamentsgesetzen sind dies etwa die Begründungen von Gesetzesentwürfen, die jedoch meist deutlich knapper ausfallen als in Deutschland. Ergiebiger sind hingegen die Berichte der Berichterstatter der beteiligten Parlamentsausschüsse, insbesondere der Rechtsausschüsse beider Parlamentskammern. Sowohl die Nationalversammlung als auch der Senat haben die Materialien der jüngeren Gesetzesänderungen online gestellt.

Für unterparlamentarische Rechtsnormen existieren meist keine Materialien. Immerhin können ordonnances mit einem erläuternden Bericht an den Präsidenten der Republik (rapport au Président de la République) versehen werden, der zusammen mit der ordonnance im Amtsblatt verkündet wird. Der Bericht fällt jedoch meist deutlich knapper aus als die Materialien von Parlamentsgesetzen.

Auslegungshilfen können weitere Dokumente bieten, insbesondere die Berichte amtlicher oder halbamtlicher Kommissionen, wie der Rapport Dintilhac, der Abschlussbericht der vom französischen Justizministerium eingesetzten und vom früheren Vorsitzenden der Zweiten Zivilkammer des Kassationshofs Jean-Pierre Dintilhac geleiteten Arbeitsgruppe zur Schaffung eines Verzeichnisses für entschädigungsfähige Körperschäden im Rahmen zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche.

Rechtliche Besonderheiten gelten in den nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich wiedererlangten Gebieten des ehemaligen Reichslands Elsaß-Lothringen, den heutigen Ostdepartements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle („Alsace-Moselle“). Einzelne Regelungen des 1919 geltenden deutschen Rechts, darunter auch des Bürgerlichen Gesetzbuchs, sind in diesen Territorien nach wie vor als „Lokales Recht“ (droit local) anwendbar. Teils gelten die ursprünglichen alten deutschen Vorschriften, für die nach wie vor der deutsche Wortlaut maßgeblich ist. Teils sind für die Ostdepartements französische Gesetze in Kraft getreten, die früheren deutschen Vorschriften nachempfunden sind.

Der Zugang zu den alten deutschen Quellen des droit local war lange Zeit dadurch erschwert, dass sie in keiner amtlichen französischen Sammlung verkündet waren. Mit Blick auf das verfassungsrechtlich garantierte Bestimmtheitsgebot und aus Anlass der Entscheidung des französischen Verfassungsrats vom 30.11.2012 ist per Dekret vom 14.05.2013 die Verkündung einer amtlichen Fassung jener Vorschriften in französischer Sprache verfügt worden. Diese Verkündung ist in amtlichen Sammlungen der betroffenen Departements erfolgt (etwa im Recueil des actes administratifs des Departements Bas-Rhin: RAA numéro spécial vom 15.05.2013 und RAA numéro spécial vom 29.08.2013). Die Veröffentlichung der französischen Übersetzung hat jedoch nur informatorischen Charakter. Maßgeblich ist nach wie vor der deutsche Wortlaut.

Das droit local sieht u.a. Besonderheiten im Vereinsrecht, Erbrecht, Immobiliarsachenrecht, Grundbuchrecht, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, Gerichtsverfassungsrecht vor. Hilfestellungen bei der Suche und der Erläuterung des droit local bietet das Straßburger Institut de droit local.

Die juristischen Literaturgattungen in Frankreich und in Deutschland ähneln sich. Gesetzeskommentare finden sich bei französischen Verlagen jedoch seltener.

  • Als Nachschlagewerke für die tägliche juristische Recherche eignen sich vor allem die Loseblattsammlungen der nach Stichworten alphabetisch sortierten Encyclopédies Dalloz (etwa der Répertoire de droit civil oder der Répertoire de procédure civile) oder der teils nach Abschnitten von Gesetzbüchern, teils ebenfalls nach Stichwörtern sortierten Jurisclasseurs von LexisNexis France. Sowohl die Encyclopédies als auch die Jurisclasseurs befinden sich in kostenpflichten Datenbanken der jeweiligen Verlage.
  • Gängige Zeitschriften für Aufsätze und Urteilsanmerkungen: Recueil Dalloz, Semaine juridique – édition générale, Revue trimestrielle de droit civil, Gazette du Palais, Revue Lamy droit civil. Weitere, spezialisiertere Zeitschriften: Revue des contrats (Vertragsrecht), Semaine juridique – édition économique (Wirtschaftsrecht), Revue trimestrielle de droit commercial (Wirtschaftsrecht), Revue Lamy droit des affaires (Wirtschaftsrecht), Repertoire Defrénois (notariatsrelevante Materien), Bulletin Joly (Gesellschaftsrecht) u.a.
  • Hand- und Lehrbücher mit wissenschaftlichem Anspruch: die Précis-Reihe beim Verlag Dalloz, die Reihe Traité de droit civil und die Reihe Droit civil beim Verlag LGDJ, die Reihe Manuels beim Verlag LexisNexis France, die Reihe Traité de droit civil beim Verlag Economica, die Reihe Thémis beim Verlag Presses universitaires de France.
  • Handbücher für Praktiker: Die Reihen Dalloz action und Dalloz référence beim Verlag Dalloz, die Reihe Mémentos beim Verlag Francis Lefebvre, die Reihe Lamy expert beim Verlag Lamy.
  • Gängige Reihen für privatrechtlich ausgerichtete Dissertationen (thèses de doctorat): Bibliothèque de droit privé beim Verlag Librairie générale de droit et de jurisprudence (LGDJ), Droit des affaires der Verlags Presses universitaires Aix-Marseille (PUAM), Nouvelle Bibliothèque de thèses beim Verlag Dalloz.

Französische Reform des Vertragsrechts, der allgemeinen Regeln der Schuldverhältnisse und des Beweises der Schuldverhältnisse

Die Vertragsrechtsreform ist Teil des Gesamtvorhabens einer grundlegenden Modernisierung des französischen Schuldrechts. Ihr ging die Reform des Verjährungsrechts voraus (Gesetz Nr. 2008-561 vom 17.06.2008); als nächstes geplant ist die Modernisierung des zivilrechtlichen Schadensersatzrechts, die sowohl den vertraglichen als auch den deliktischen Schadensersatz abdecken soll. Ein revidierter Entwurf existiert bereits.

Die Vertragsrechtsreform führt zu grundlegenden Änderungen des Code civil in folgenden Gebieten:

  • Das Recht der Rechtsgeschäfte, insbesondere das Zustandekommen von Verträgen und die Leistungsstörungen.
  • Das Recht der „Quasi-Kontrakte“, d.h. das Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag und das Bereicherungsrecht.
  • Die allgemeinen Regeln des Schuldverhältnisses, welche sich auf den Inhalt, die Beendigung und die Beteiligung Dritter an Schuldverhältnissen beziehen.
  • Die Regeln über den Beweis von Schuldverhältnissen, insbesondere auch über die Beweiskraft von Beweismitteln, die in Frankreich traditionell im Code civil geregelt sind.

Der französische Gesetzgeber hat sich dazu entschlossen, die Vertragsrechtsreform im Wege einer Ordonnance auf den Weg zu bringen. Die Besonderheit dieses Gesetzgebungsverfahrens liegt in der Einführung der neuen Regelungen in drei Etappen:

Voraussetzung der Gesetzgebung durch Ordonnance war zunächst ein parlamentarisches Ermächtigungsgesetz (loi d’habilitation) gemäß Art. 38 der Verfassung von 1958. Ein solches Gesetz ist am 16.02.2015 ausgefertigt worden.

  • Loi n° 2015-177 du 16 février 2015 relative à la modernisation et à la simplification du droit et des procédures dans les domaines de la justice et des affaires intérieures, JORF [Journal officiel de la République française] n° 40 du 17 févr. 2015, texte 1 (NOR JUSX1326670L).

Notwendig war weiter der Beschluss der französischen Regierung über die Ordonnance, die die einzelnen Änderungen des Code civil zum Gegenstand hat. Die Ordonnance ist am 10.02.2016 unterzeichnet worden und ist am 01.10.2016 in Kraft getreten.

  • Ordonnance n° 2016-131 du 10 février 2016 portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations, JORF n° 35 du 11 févr. 2016, texte 26 (NOR JUSC1522466R).

Da die Ordonnance nicht die Form eines Parlamentsgesetzes hat, existieren hierzu keine klassischen Gesetzgebungsmaterialien wie die Begründung eines Gesetzesentwurfs oder Berichte beteiligter Parlamentsausschüsse. An ihrer statt existiert ein kurzer Bericht an den Präsidenten der Republik, der die Reform in knapper Form erläutert. Der Bericht ist zusammen mit der Ordonnance im Amtsblatt veröffentlicht, so dass er bei der Auslegung der neuen Vorschriften herangezogen werden kann.

  • Rapport au Président de la République relatif à l’ordonnance n° 2016-131 du 10 février 2016 portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations, JORF n° 35 du 11 février 2016, texte 25 (NOR JUSC1522466P).

Der Ordonnance ist ein Vorentwurf vorausgegangen, den das französische Justizministerium im Vorfeld als Diskussionspapier veröffentlicht hat. Der Vorentwurf ist jedoch nicht mit Gründen versehen.

Die Ordonnance bedurfte schließlich der nachträglichen Bestätigung durch ein Parlamentsgesetz. Ein Gesetzesentwurf ist am 06.07.2016 rechtzeitig eingebracht worden, musste wegen Beendigung der Legislaturperiode aber wieder zurückgezogen werden. Er wurde von der neuen Regierung am 09.06.2017 erneut eingebracht. Das Bestätigungsgesetz ist vergleichsweise spät, erst am 20.04.2018 ausgefertigt worden.

  • Loi n° 2018-287 du 20 avril 2018 ratifiant l’ordonnance n° 2016-131 du 10 février 2016 portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations, JORF du 21 avril 2018, texte 1 (NOR JUSC1612295L).

Anders als von der französischen Regierung offenbar erhofft, beschränkt sich das Bestätigungsgesetz nicht darauf, die Bestimmungen in der Fassung der Ordonnance punktgenau zu übernehmen. Vielmehr hat das Parlament einige Nachkorrekturen vorgenommen, die die bereits in Kraft getretenen Reformvorschriften nochmals modifizieren. Die wesentlichen Richtungsentscheidungen der Reform sind hierbei jedoch nicht in Frage gestellt worden. Einige der Nachkorrekturen sind als nachträgliche „normauslegende Bestimmungen“ (dispositions à caractère interprétatif) in Kraft getreten. Deren Zweck liegt nicht in der Veränderung, sondern lediglich in der inhaltlichen Klarstellung der von ihnen betroffenen Vorschriften. Sie treten daher rückwirkend zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Ordonnance am 01.10.2016 in Kraft. Mit den übrigen Nachkorrekturen beabsichtigt der Gesetzgeber hingegen echte Veränderungen der Rechtslage. Sie treten daher erst am 01.10.2018 in Kraft (s. Art. 16-I des Bestätigungsgesetzes).

Anders als für die Ordonnance existieren für das bestätigende Parlamentsgesetz umfassende Gesetzesmaterialien, die auf den Dokumentationsseiten des Senats oder der Nationalversammlung einsehbar sind.

Deutsche Übersetzungen der Vertragsrechtsreform (ohne Bestätigungsgesetz):

  • Sonnenberger, Hans Jürgen: Parlamentarisches Ermächtigungsgesetz vom 16.02.2016 (Auszug), Drittes Buch, Titel III des Code civil in der Fassung der Ordonnance vom 10.02.2016, ZEuP 2017, 195-214; Drittes Buch, Titel IV des Code civil in der Fassung der Ordonnance vom 10.02.2016, ZEuP 2017, 984-1002.
  • Fondation de droit continental: online.
  • Florian Bien, Agnès Moterde, Rüdiger Morbach und Markus Welzenbach in: Bien, Florian; Borghetti, Jean-Sébastien (Hrsg.), Die Reform des französischen Vertragsrechts, Mohr Siebeck, Tübingen, 2018, S. 253 ff.

Vorarbeiten aus der Wissenschaft: Angestoßen wurde die Reform von einem Aufruf aus den Reihen der Hochschullehrer, auch in Frankreich das Schuldrecht und das Verjährungsrecht zu modernisieren. Ein privater Vorentwurf (Avant-projet Catala) stammt von der um Prof. Pierre Catala versammelten Gruppe. Der mit umfassenden Erläuterungen versehene Vorentwurf wurde am 22.09.2005 dem damaligen Justizminister Pascal Clément überreicht. In der Folge hat sich eine weitere Gruppe unter dem Vorsitz von Prof. François Terré gebildet. Von ihr stammt ein Vorentwurf, der am 17.11.2008 an die damalige Justizministerin Rachida Dati übermittelt und in der Folge in Buchform veröffentlicht worden ist.

  • Rapport Catala: Avant-projet de réforme du droit des obligations (articles 1101 à 1386 du Code civil) et du droit de la prescription (articles 2234 à 2281 du Code civil) – Rapport à Monsieur Pascal Clément, Garde des Sceaux, Ministre de la Justice, 22 septembre 2005.
  • Rapport Terré: Pour une réforme du droit des contrats, Réflexions et propositions d’un groupe de travail sous la direction de François Terré, Dalloz, Paris, 2009.

Bibliographie in französischer Sprache: Die Zahl der Veröffentlichungen, insbesondere auch zu verschiedenen Einzelgebieten der Vertragsrechtsreform, ist kaum mehr zu überblicken. Sie sind u. a. in folgenden französischen Fachzeitschriften zu finden: Recueil Dalloz (D.), Semaine Juridique édition générale (JCP-G), Revue des contrats (RDC), Revue trimestrielle de droit civil (RTDciv), Gazette du Palais, Revue Lamy droit civil (RLDC), Les petites affiches (LPA). Nachfolgend ist eine Auswahl an Publikationen aufgeführt, die sich mit der Reform im Ganzen befassen.

  • Chantepie, Gaël; Latina, Mathias: La réforme du droit des obligations, Commentaire théorique et pratique du Code civil, Dalloz, Paris, 2. Auflage 2018.
  • Chénédé, François: Le nouveau droit des obligations et des contrats: Consolidations, innovations, perspectives, Paris, Dalloz, 2. Auflage 2018.
  • Dissaux, Nicolas; Jamin, Christophe: Réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations (Ordonnance n° 2016-131 du 10 février 2016), Commentaire des articles 1100 à 1386-1 du code civil, Dalloz, Paris, 2016.
  • Douville, Thibaut (Hrsg.): La réforme du droit des contrats, Commentaire article par article de l’ordonnance du 10 février 2016 portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations, Gualino, Paris, 2. Auflage 2018.
  • Laithier, Yves-Marie; Deshayes, Olivier; Genicon, Thomas: La réforme du droit des contrats et des obligations, LexisNexis, Paris, 2. Auflage 2018.
  • Pellier, Jean-Denis: L’ordonnance portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations enfin ratifiée !, Dalloz Actualité, 30.04.2018 (Zum Bestätigungsgesetz vom 20.04.2018).
  • Revue des contrats hors-série 2016, La réforme du droit des contrats: quelles innovations ?, LGDJ, Paris, 2016.

Bibliographie in deutscher Sprache:

  • Babusiaux, Ulrike; Witz, Claude: Das neue französische Vertragsrecht – Zur Reform des Code civil, JZ 2017, 496-507.
  • Bien, Florian; Borghetti, Jean-Sébastien (Hrsg.): Die Reform des französischen Vertragsrechts, Mohr Siebeck, Tübingen, 2018, 321 S.
  • Cauvin, Morgane: Das Leistungsstörungsrecht des französischen Code civil nach der Vertragsrechtsreform 2016 – Eine rechtsvergleichende Analyse unter Einbeziehung des BGB, der UPICC, der PECL, des DCFR und des Gandolfi-Code. Dissertation, Universität zu Köln, 2020. Online verfügbar.
  • Deshayes, Béatrice; Barsan, Iris: Das neue französische Vertragsrecht, IWRZ 2017, 62-67.
  • Ernst, Simone I. J.: Die allgemeine Informationspflicht des reformierten Code civil – Eine Analyse aus kaufrechtlicher Perspektive im Vergleich zum deutschen Recht, UN-Kaufrecht und CESL (= Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht, Bd. 61), Nomos, Baden-Baden, 2023.
  • Klein, Christian: Die Vertragsrechtsreform in Frankreich, RIW 2016, 328-331.
  • Limbach, Francis: Die französische Reform des Vertragsrechts und weiterer Rechtsgebiete, GPR 2016, 161-164.
  • Moll, Verena; Luke, Antje: Die französische Vertragsrechtsreform – Möglichkeiten und Risiken, IWRZ 2017, 43-45.
  • Neumann, Sybille; Berg, Oliver: Einführung in das französische Recht, Nomos, Baden-Baden, 2020, Rn. 141-322.
  • Sonnenberger, Hans-Jürgen: Die Reform des französischen Vertragsrechts, des Regimes und des Beweises schuldrechtlicher Verbindlichkeiten durch Ordonnance Nr. 2016-131 vom 10.02.2016, Erster Teil: Quellen der Schuldverhältnisse, ZEuP 2017, 6-67.
  • Ders.: Die Reform des französischen Vertragsrechts, des Regimes und des Beweises schuldrechtlicher Verbindlichkeiten durch Ordonnance Nr. 2016-131 vom 10.02.2016, Zweiter Teil: Allgemeine Vorschriften, régime général und Beweis, preuve, der schuldrechtlichen Verbindlichkeiten, ZEuP 2017, 778-835.

Nach Inkrafttreten der Reformen des Verjährungsrechts im Jahre 2008 und des Vertragsrechts in den Jahren 2016 und 2018 steht nun eine umfassende Reform des französischen Haftungsrechts an. Geplant ist eine ganzheitliche Aufarbeitung sowohl des vertraglichen als auch des deliktischen („außervertraglichen“) Haftungsrechts. Eine entsprechende Reform war vor dem Hintergrund europaweiter Modernisierungsarbeiten von privaten Initiativen angeregt worden, darunter insbesondere:

  • Rapport Catala: Avant-projet de réforme du droit des obligations (articles 1101 à 1386 du Code civil) et du droit de la prescription (articles 2234 à 2281 du Code civil) – Rapport à Monsieur Pascal Clément, Garde des Sceaux, Ministre de la Justice, 22 septembre 2005.
  • Terré, François (Hrsg.): Pour une réforme du droit de la responsabilité civile, Dalloz, Paris, 2011.

Auf dieser Grundlage hat das französische Justizministerium am 13.03.2017 einen Diskussionsentwurf veröffentlicht (Projet de réforme de la responsabilité civile – mars 2017). Einige Vorschläge waren Gegenstand kontroverser Diskussionen und die französische Regierung hat seither keine weiteren Schritte zur Verwirklichung einer entsprechenden Reform eingeleitet. Aus der Mitte des Senats wurde jedoch am 22.07.2020 ein Thesenpapier mit 23 Vorschlägen (23 propositions pour simplifier la vie des Français en facilitant la réparation des dommages) formuliert, das auf die meisten umstrittenen Vorstöße des Diskussionsentwurfs verzichtet. Dem Thesenpapier ist am 29.07.2020 ein Gesetzesentwurf des Senats gefolgt.

Es ist zurzeit nicht abzusehen, ob und inwieweit der aus der Mitte der Senatoren stammende Entwurf vom bisher federführenden Justizministerium mitgetragen wird. Besprochen wurde der Entwurf bisher in folgenden Publikationen:

  • Bacache, Mireille: Responsabilité civile : une réforme a minima ?, Semaine juridique – Édition générale [JCP-G] 2020, 1007.
  • Delpech, Xavier: Réforme de la responsabilité civile : relance en vue, Actualité juridique contrat [AJ contrat} 2020, 349.